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Ein Anflug von Nachbarschaft

Von Alexander Glück

 

Bildangebote im Internet sind nichts neues. Sie kommen von überall her, bieten meistens unbeholfene Pornographie auf Kreditkartenbasis und bringen Juristen ins Grübeln. Richtig lebendig geht es nach den Versprechen der Anbieter zu, sobald Kameras installiert sind, die den geschäftigen Betrieb vor ihrem Objektiv regelmäßig in die Weiten des Internets abstrahlen. Kellycam ist so etwas. Da behauptet eine allem Anschein nach inszenierte Wohngemeinschaft, nichts von dem sei gespielt, was man da von den sechsundzwanzig Kameras übertragen bekommt. Auf einer anderen Internetseite zeigt sich eine anämische Russin namens Irinka und verspricht schöne Stunden — aber bitte erst das Formular ausfüllen.

Dies alles bedarf kaum eines Kommentars. Die Zielgruppe ist´s zufrieden, alle anderen werden durch die freizügigen Angebote allenfalls gestört. Der kurze Blick auf solches ist dennoch notwendig, wenn man sich mit einer anderen Art der Bildangebote befassen will. Das Internet ist die ideale Plattform für alle, die per Text und Bild ihre Seele entblößen möchten. Immer mehr Menschen übertragen ihr Privatleben per Web-Kamera ins Internet. Und immer mehr schauen zu, wie sich ein paar Jenaer Studenten die Zähne putzen, wie die Kölner Krankenschwester Meli an ihrem Schreibtisch sitzt oder wie andere "Menschen wie du und ich" völlig banale Sachen tun. Während unprominente Personen ihr Leben zur Schau stellen, blicken durch die kleinen Linsen der Computerkameras Hunderte, manchmal sogar Tausende von irgendwelchen anderen Leuten, die ihr Interesse am Alltag im Internet entdeckt haben.

Auch bei Tina gibt es das Sensationsprogramm des normalen Alltags: Tina beim Bügeln, Tina beim Essen, Tina beim Lesen. Für Leute, die viel im Internet verkehren, ist sie zur Kultfigur geworden, es gibt sogar schon einen Fanclub. In der Medienwelt ist nur wirklich, was in den Medien erscheint. Sich selbst in die Öffentlichkeit zu stellen, wird zum Beweis der eigenen Existenz. Die junge Dame ist zwar zeitweilig nicht zu sehen, aber man kann auf der Internetseite ein Archiv aufrufen, in dem tausend ältere Abbildungen genauen Nachweis darüber führen, wie Tina in den letzten Monaten gelebt hat. Tina hat gekocht, gegessen und sich umgezogen. Es sind Freunde zu Besuch gekommen. Sie hat auch einmal in schwarzer Wäsche gebügelt. Näheres erfährt man aus einem Steckbrief und dem regelmäßig geführten Tagebuch, auch ein kleiner Pressespiegel ist abrufbar. Wem auch das nicht reicht, der kann Tina eine Nachricht hinterlassen und sich auf die Antwort freuen. Der jeweils Tausendste, der ihr schreibt, bekommt ein Tina-T-Shirt. Außerdem gibt Tina Rätsel auf; das letzte muß schwierig gewesen zu sein, denn Tina sagt, es seien kaum richtige Lösungen eingegangen. Die sechsundzwanzigjährige Rheinländerin stand in einem Email-Interview Rede und Antwort.

Brauchen Sie einen Beweis für Ihre Existenz?

Nein, wieso? Daß ich existiere, wußte ich auch vor TinaCam.

In unserer Zeit läuft doch alles immer mehr darauf hinaus, daß nur noch der stattfindet, der medial auftritt.

Das ist mir absolut gleichgültig! Die ganze Idee zu Tinacam stammt ja ursprünglich nicht von mir. Durch die Aktion hat sich in meinem Leben im Grunde nicht viel geändert… außer das mein elektronischer Postkorb regelmäßig überquillt.

Also ein Scherz, der sich verselbständigt hat?

Auf jeden Fall! Die ganze Sache entstand ja aus einer Bierlaune heraus! Seit dem 1. Oktober 1998 ist die Website online. Das war die Idee meines Freundes, und er hat mich auch erst eingeweiht, als die Cam bereits bestellt war. Am Anfang sollte das einfach ein Spaß sein, eine witzige Idee. Daß es solche Ausmaße annimmt, hätte ich nicht gedacht.

Sind Sie der Meinung, daß es wichtiger wird, sich selbst im Internet wiederzufinden, um "mit dabei" zu sein?

Ich könnte auch ohne Cyber-Leben genauso gut leben, und um "mit dabei" zu sein, brauche ich das Internet nicht! Im Grunde ist es ja ein Medium, das die Menschen vereinsamen läßt. Ich kann mich mit "meinen" virtuellen Freunden unterhalten, meine Klamotten bestellen, Reisen buchen und eine Menge Menge Geld an die Telefongesellschaften verschenken! Mit dem Internet habe ich eigentlich recht wenig am Hut! Ich nutze es nur beruflich. Eine eigene Homepage hat mich auch im Grunde nie so recht interessiert.

Meinen Sie, daß es dennoch eine Tendenz hin zur Online-Existenz ist?

Auf mich bezogen nein. Wenn man es auf die heutige Menschheit bezieht, kann ich das nicht beurteilen.

Webcam-Seiten im Internet haben oft einen deutlichen Sex-Bezug. Stört es Sie, in diesen Gewässern zu fahren, oder kokettieren Sie mit prüdem Alltag?

Wessen Alltag ist hier prüde? Ist für den Zuschauer nicht immer das Verhüllte viel interessanter? Nackte Frauen kann man sich auf jedem zweiten Angebot im Internet anschauen… auf diesen Zug muß ich nicht aufspringen. Ein absichtliches Gegenangebot ist es eigentlich nicht: An diese ganzen Sachen hat man doch anfangs gar nicht gedacht, da haben wir uns über hundert Zugriffe am Tag gefreut und hätten nie gedacht, dass die ganze Aktion so ausufern könnte! Bewußt ist in der Anfangszeit sowieso nicht viel gelaufen. Ich will auf jeden Fall nicht mit den eindeutigen kostenpflichtigen Webcamseiten zusammengebracht werden! Da achtet man natürlich auch darauf, daß man möglichst nicht ganz nackt vor der Kamera herumspringt. Hinsichtlich der Zuschriften, die unter die Gürtellinie gehen, kann ich nur sagen: Die Jungs tun mir leid. Es hält sich allerdings in Grenzen!

Hat es Sie in der Anfangszeit nervös gemacht, von den Kameras beobachtet zu werden?

Nervös würde ich nicht direkt sagen, aber ich habe schon darauf geachtet, wann die Kamera das nächste Bild macht, wie die Haare sitzen etc. Aber mit der Zeit denkt man eigentlich nicht mehr daran. Es gibt natürlich Tage, an denen ich keinen Bock auf die Kameras hab, dann wird halt ein leeres Zimmer aufgenommen oder man sieht mich nur hin und wieder. Meistens vergißt man diese ganze Aktion, vor allem die Officecam nehme ich so gut wie gar nicht mehr wahr, da ertappt man sich dann dabei wie man im Büro gähnend vor dem Bildschirm sitzt… das kann dann auch mal peinlich werden! Es kann natürlich auch passieren, daß ich mal Nase bohrend von der Cam erwischt werde, dies ist allerdings bisher nur Karsten passiert.

Findet also eine Art innere Zensur statt?

Naja, Zensur kann man das nicht nennen. Es gibt Tage, an denen passiert hier nicht viel, und trotzdem habe ich vielleicht einfach keine Lust auf Beobachtung. Ich habe kein Problem damit, auf den Bildern nicht so photogen rüberzukommen, wie es sich vielleicht manche Leute wünschen würden. Wir sortieren generell keine Bilder aus, ich weiß normalerweise nicht, wann die Kamera ein Bild macht. Die Galeriebilder sind zufällig gespeicherte Bilder, auf denen ich auch nicht immer so ganz gestylt zu sehen bin.

Wie ist das, wenn bei Ihnen zuhause Besuch ist: Sind die Leute ungezwungen oder werden die Kameras zum zentralen Thema?

Die meisten kennen die ganze Aktion ja bereit von Anfang an, ein Thema ist die ganze Geschichte im Freundeskreis eigentlich nicht mehr. Sollte damit mal einer ein Problem haben, gibt es ja die Möglichkeit, die Anlage während des Besuchs abzuschalten.

Schauen manche zuhause gleich nach, "ob sie mit drauf sind"?

Ich glaube, so verrückt ist keiner!

Kommen manche Ihrer Freunde weniger gut damit zurecht?

Es gab da mal ein befreundetes Paar, das anscheinend mit der Sache nicht zurecht kam. Und anstatt mir das direkt ins Gesicht zu sagen, hat man in der Stadt schlecht über mich geredet. Aber diese Leute würde ich nicht direkt als meine Freunde bezeichnen. Ansonsten finden die meisten die Aktion eigentlich ganz gut. Ganz am Anfang hatten wir eine Party veranstaltet, auf der die Cam ihren ersten Einsatz hatte. Allerdings wurden damals die Bilder nur lokal gespeichert. War eine witzige Sache. Danach erst kam die Idee, Tinacam ins Netz zu stellen, und alle wußten von Anfang an bescheid. Niemals würde ich jemanden unvorbereitet vor die Cam setzen, das ist nicht gerade fair und ich wäre an seiner Stelle stinksauer. Alle unsere Freunde, Verwandten und Familie kennen unsere Aktion. Sollte jemand überraschend zu Besuch kommen, der noch nie bei uns war, wird er natürlich vorgewarnt.

Ist das Projekt finanziell rentabel?

Telefonkosten und Providerkosten summieren sich seit einiger Zeit auf circa tausend Mark im Monat. Ein bißchen was bleibt übrig, aber nicht viel. Man kann leider noch nicht davon leben!

Aber eine Erfahrung ist es auf jeden Fall wert. Ob es sich rechnet oder nicht, hängt im Endeffekt von den Zugriffen und den dann vielleicht vorhandenen Sponsoren oder Werbepartnern ab. Die Seite wird für die Besucher auch weiterhin kostenfrei bleiben.

Betreiben Sie Ihren Fanartikelladen selbst?

Nein, denn wir haben gar keine Zeit, um uns um die ganze Abwicklung zu kümmern. Wir bekommen die Bestellungen per Mail, und diese werden lediglich weitergeleitet. Ob wir das Fanartikelangebot vergrößern, hängt wesentlich davon ab, ob wir kurzfristig eine neue Merchandising-Firma finden. Derzeit stecken wir allerdings unsere ganze Energie in unsere neue Aktion. Die Seite und ich feiern nämlich am 15.10.99 im G@rden (großes Internetcafe in Düsseldorf) unseren Geburtstag, und derzeit stecken wir noch in der Endplanung!

Dann kommen sicher viele Leute, die regelmäßig Ihre Seite ansehen und einen Bezug zur virtuellen Tina aufgebaut haben. Glauben Sie, daß diese Leute später ein anderes Verhältnis zu Ihnen haben werden?

Keine Ahnung, was man von mir erwartet… ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, welche Erwartungen ich enttäuschen könnte. Im Grunde bin ich ja auch auf der Party recht unerreichbar… man kann zwar mit mir plaudern, aber ich kann natürlich auch nicht allen gerecht werden. Wir erwarten etwa 600 Leute. Tinacam treffen und real erleben heißt auch noch lange nicht, mich dabei richtig kennenzulernen. Mich kennt eigentlich nur ein recht überschaubarer Kreis. Wenn auf der Party einer desillusioniert wird, habe ich kein Problem damit.

Was machen Sie beruflich?

Ich bin gelernte Versicherungskauffrau und derzeit mit der Vermarktung von Festnetz und Mobilfunk beschäftigt. Unsere Firma hat etwa 260 Mitarbeiter in zwei Niederlassungen. In der Niederlassung, in der ich beschäftigt bin, sind etwa dreißig Personen in einem Großraumbüro tätig. Wir sind zwei Frauen, der Rest ist männlich. Die Kollegen kannten die ganze Aktion bereits vorher schon, und große Reaktionen blieben da eigentlich aus. Bemerkungen über Tinacam kommen aber manchmal vor, die meisten lesen auch mein Tagebuch. Aber wir reden im Grunde recht selten über meine Seite… es gibt da schon interessantere Sachen, über die man sich unterhalten kann! In erste Linie zähle ich als Tina (persönlich) und nicht als Tinacam! Auf keinen Fall steht Tinacam im Zusammenhang mit meiner eigentlichen Arbeit. Ich schaue mir meine Seite selbst recht selten an, wüßte auch ehrlich gesagt keinen Grund dafür. Ich lebe genauso wie vorher auch und zerbreche mir lieber über wichtigere Dinge in meinem Leben den Kopf.

Ist für Sie die Internetseite eine Möglichkeit, andere mit Ihren Eigenschaften zu konfrontieren?

Ich muß niemanden mit meinen Eigenschaften konfrontieren. Ich gebe zu, daß man mich so, wie ich wirklich bin, sowieso nicht über die Seite kennenlernen wird, weil sich im Grunde jeder ein anderes Bild von der virtuellen Person machen kann. Wie ich mich im wirklichen Leben benehme und gebe, erfährt man wirklich nur, wenn man mir gegenübersitzt. Ich glaube, daß das, was ich von mir preisgebe, vollkommen ausreicht. Ich werfe es niemandem vor, wenn er sich eine Meinung bildet, die mir nicht paßt. Ich muß doch auch mit negativen Meinungen und anderen Lebenseinstellungen klarkommen. Was nicht mit Akzeptanz, sondern eher mit Toleranz zu tun hat.

Ich investiere ständig in eine bessere und schnellere Büroausstattung!

Ihr kleiner Beitrag zahlt sich aus. Danke!