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Photographieren mit der Lochkamera

Von Alexander Glück

 

Hier gibt es Lochkamera-Bilder

Die Amateurphotographie stirbt aus. Aber die Branche boomt — ständig verfeinerte und verbilligte Photoapparate finden immer mehr Käufer, Filme werden im Zehnerpack verkauft, und eine Farbausarbeitung gibt es schon um einen Schilling, weil die gewaltigen Mengen an Filmen auch aus dieser Kalkulation ein gutes Geschäft machen. Es wird gekauft, geknipst, entwickelt — aber die Amateurphotographie stirbt aus: das bewußte und mutwillige Erschaffen eines Abbilds dessen, was man geistig oder real sieht. Am ehesten kann man erahnen, was Amateurphotographie ist, wenn man sich ihr Gegenteil, die "Lomographie", ansieht. Da wird nicht einmal mehr durch den Auslöser geschaut, einfach nur auf den Knopf gedrückt. Dann gibt es die milliardenfachen Ratsch-bumm-Urlaubsbildchen und jene Gruppe blasierter "ernsthafter" Amateure, die sich eine Spiegelreflexkamera mit Hyperzoom, Programmautomatik und zusteckbaren "Kreativkarten" um den Hals hängen, damit aber kein einziges Bild selbst aufnehmen.

Zur Ablichtung gehört weit mehr als nur das hinhalten und auslösen, und auch wenn aufgrund des bei manuellen Kameras zweifellos erforderlichen Zeitaufwandes in manchen Bereichen mit einer automatischen Kamera einfach besser gearbeitet werden kann, lohnt es sich schon, einmal darüber nachzudenken, warum und womit man eigentlich photographiert. Diese Frage ist spätestens dann berechtigt, wenn man einen winzigen künstlerischen Anspruch in seinen Bildern umsetzen will. Man kann dann zwischen zwei Konsequenzen wählen. Entweder man besorgt sich das denkbar Beste, also eine Laufbodenkamera oder zumindest etwas aus dem Mittelformatbereich mit exzellentem Objektiv. Man wird damit bei entsprechender Lernbereitschaft die Möglichkeit haben, zumindest ausgesprochen scharfe Bilder aufzunehmen. Oder man wirft alles über Bord, was man über Schwingspiegel, TTL-Belichtungsmessung und eingefrorene Bewegungen gelesen hat, und kehrt zu den archaischsten Anfangsgründen der Photographie zurück. Dies geschieht mit einer Lochkamera, die man sich mit wenig Aufwand zulegen kann und die nicht nur mit photographischen Zusammenhängen vertraut macht, die üblicherweise im Dunkeln liegen. Die Lochkamera bietet Möglichkeiten der Bildgestaltung, die einzigartig und faszinierend sind — und die sich mit keinem der Spitzengeräte verwirklichen lassen.

Um zu dieser Möglichkeit hinzuführen, wurde kürzlich im Augustus-Verlag eine Einführung nebst komplettem Bausatz für eine Lochkamera veröffentlicht. Der einzige Nachteil dabei: Dieses Gerät und das Arbeiten mit Photopapier sind nicht zweckmäßig. Wenn man für Lochkameras eintritt, dann sollten sie auf Film aufnehmen. Ansonsten ist die Lochkamera prinzipiell simpel: Es handelt sich dabei um einen dunklen, lichtdichten Raum (Camera obscura) mit einem kleinen Loch auf der einen und einem lichtempfindlichen Papier oder Film auf der anderen Seite. Fällt nun Licht durch das Loch auf den Film, so bildet es dort das ab, wovon es reflektiert wurde: Landschaften, Gegenstände, Bäume usw. Durch diese Konstruktion sind Lochkamerabilder zwangsläufig nie richtig scharf, aber dafür haben sie auch keine begrenzte Schärfentiefe. Das bedeutet, daß die Bilder etwas weicher sind, aber über alle Entfernungen die aufgenommenen Gegenstände mit derselben Schärfe zeigen. Das leistet kein Objektiv. Und ebenfalls unmöglich ist es für ein Objektiv, im Randbereich eines Photos das Motiv ohne Verzerrungen abzubilden, wie es die Lochkamera kann. Der dritte große Unterschied zwischen Lochkameras und normalen Photoapparaten liegt darin, daß durch die winzige Öffnung nur sehr wenig Licht in das Innere fällt und daher sehr lange belichtet werden muß. Die Aufnahmezeiten bewegen sich bei normalempfindlichem Film zwischen vier Minuten und mehreren Stunden. Das bringt es mit sich, daß nichts auf das Bild gelangt, was in Bewegung ist: Autos, Menschen, Tiere und dergleichen werden unsichtbar, wenn sie nicht gerade während der Aufnahme an ihrem Platz verweilen. Das gibt den Bildern eine befremdliche Stimmung: Belebte Plätze sind plötzlich menschenleer; ein See, in dessen leichtem Wellengang sich die Enten tummeln, erscheint als spiegelglatte Fläche.

Schon vor über zweitausend Jahren diente die Lochkamera chinesischen und griechischen Wissenschaftlern beim Studium des Lichts. Im 11. Jahrhundert benutzten die Araber Zelte als Lochkameras. Und wieder war es Leonardo da Vinci, der im 15. Jahrhundert die Lochkamera ausführlich beschrieb. Gemma Frisius verdanken wir die erste Abbildung dieser dunklen Kammer: Er beobachtete damit die Sonenfinsternis von 1544 sehr genau, weil der direkte Blick in die Sonne vermieden werden konnte. Der Begriff Camera obscura stammt von Johannes Kepler. Seinem Zeitgenossen Giovanni della Porta brachte die Verwendung einer solchen die Anklage der Hexerei ein. Um 1700 verwendete man schwarze Scheiben mit kleinen Löchern, um Kurzsichtigen das Sehen zu erleichtern. Künstler machten sich das Prinzip zunutze, indem sie durch eine Lochkamera ihr Motiv auf Pauspapier in perfekter Perspektive übertrugen. Der holländische Maler Vermeer fertigte viele seiner Bilder auf diese Weise an.

Als die Photographie aufkam, geriet die Lochkamera mehr und mehr in Vergessenheit, wenn auch die erste Wegwerfkamera im Jahre 1890 eine war. Objektive erlaubten wesentlich kürzere Belichtungszeiten; eine Nische fand sie in der Aufnahme bestimmter Röntgen- und Gammastrahlen, für die ein gläsernes Objektiv nicht geeignet ist. In der Wissenschaft haben die Lochkameras bis heute ihren festen Platz. In der künstlerischen Photographie nehmen sie ihn allmählich ein: Die Lochkamera-Bilder ähneln in ihrer gleichmäßig unscharfen Abbildung über alle Entfernungen den Erzeugnissen der impressionistischen Malerei. Betrachtet man eine solche Aufnahme, wirkt alles weich und malerisch, mithin stimmungsvoll. Je stärker der Einfluß des Realismus in der Photographie wurde, desto weiter wurde die Lochkamera abgedrängt. In den letzten zwanzig Jahren wurde sie von ambitionierten Enthusiasten wieder etabliert. Einerseits mag das mit dem Wunsch nach Außergewöhnlichkeit zu begründen sein, andererseits ist es plausibel, daß einige Lichtbildner die Nase voll haben von immer weiter hochgetriebenen Features und immer weniger eigener Gestaltungsmöglichkeit.

Ausprobieren sollte man sie allemal, wenn man zumindest den Anspruch hat, sich mit seinen Photokünsten bewußt auseinanderzusetzen. Man braucht dafür nicht die edlen Holz-Messing-Modelle, die in Anschaffung und laufenden Kosten nicht gerade billig sind. Man muß sich auch nicht die Mühe machen, einen Bausatz aufzubauen, mit dem man dann jeweils nur ein Blatt Photopapier belichten kann. Der einfachste, billigste und praktischste Weg zur Amateur-Lochkamera führt auf den Flohmarkt. Dort bekommt man eine alte Knipskiste mit dem programmatischen Namen "Box" für ein paar Schilling. Wichtig ist dabei nur, daß der Apparat weder Blenden noch Entfernungseinstellung hat, dafür aber über eine Einstellung verfügt, mit der der Verschluß beliebig lange offen bleibt. Und er sollte für Rollfilme des Typs 120 geeignet sein, die leicht erhältlich sind. Zuhause nimmt man das Innenteil heraus und zieht das Blechrohr mit der Linse komplett ab. An die entsprechende Stellte im Gehäuse klebt man ein Stück Tonpapier, in das man ein exakt rundes Loch von 0,3 bis 0,5 mm Durchmesser gebohrt hat (Akupunkturnadel). Sinnvoll ist es, den beim Durchbohren entstehenden Kragen vor dem Einsetzen mit einer Rasierklinge abzuschneiden.

Mit dieser Lochkamera kann man mit normalem Film bei Tageslicht mit Belichtungszeiten zwischen zwei und acht Minuten experimentieren. Der Vorteil liegt darin, daß man acht Aufnahmen hintereinander machen kann, also auch Belichtungsreihen von demselben Motiv. Mit diesem simplen Apparat kan man sich mit der Photographie in ihrer elementarsten Form vertraut machen: ruhig, behäbig, ohne jede verfälschende Zwischeninstanz wird das Licht-Bild direkt auf den Film geworfen. Und es regt zum Nachdenken an, daß nichts von dem mit aufs Bild kommt, was uns hektisch umzappelt — nur was über den Zeitraum der Aufnahme beständig bleibt, vermag sich hier zu verewigen.

Die Musiksequenz wird mit Erlaubnis der Classical Piano Midi Page verwendet. Das Urheberrecht liegt bei Bernd Krüger.

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