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Schreibender Leser

Von Alexander Glück

 

1.

Was ist das Lesen? "Zwar sind sie an das Beste nicht gewöhnt, allein sie haben schrecklich viel gelesen." heißt es bei Goethe, und Lessing wird zitiert mit: "Wer wird nicht einen Klopstock loben? Doch wird ihn jeder lesen? — Nein. Wir wollen weniger erhoben / und fleißiger gelesen sein." Persius Flaccus schrieb in seinen Satirae: "Quis leget haec?" ("Wer soll das Zeug lesen?") — immer haben sich Philosophen Gedanken über Sinn und Unsinn des Lesens gemacht, und keiner von ihnen ist zu klaren Schlüssen gelangt. Die Entwicklung computergestützter Lesemaschinen zeigt jedenfalls, was Lesen nicht ist: Das Einscannen bekannter Formen mit fester Bedeutung. Wenn der Computer "liest", so erfaßt er bestimmte, ihm bekannt gemachte Figuren, die er verwaltet. Liest der Mensch, so nimmt er das ganze Wort, sogar Satzteile in ihrer Gesamtheit auf. Er bestimmt die Geschwindigkeit der Aufnahme nach seinen Gewohnheiten und Fähigkeiten, nicht zuletzt auch nach seinem Geschmack. Der Computer saugt alles in der Taktzahl seines Prozessors auf und denkt nicht weiter darüber nach.

Das Wort "lesen" geht zwar auf althochdeutsche und gotische Wurzeln zurück, doch haben diese im Laufe der Zeit eine neue Bedeutung durch das entsprechende lateinische Wort erhalten. Das althochdeutsche "lesan" bedeutet noch nicht das Lesen von Schrift, sondern "auflesen, sammeln". Die neuere deutsche Bedeutung "(ein Buch) lesen" beruht auf einer Entlehnung: Das lateinische "legere" bedeutete zunächst "auflesen", dann auch "einer Spur folgen" und entwickelte daraus die Bedeutung "den Schriftzeichen folgen, lesen". Da die vermittelnde Bedeutung "einer Spur folgen" durchaus im Hintergrund stand, erschien die Bedeutung "lesen" als abhängig von der Bedeutung "auflesen" und wurde deshalb von dem deutschen Wort für "auflesen" übernommen. Durch das Auflesen von Runenstäben kann die Bedeutung nicht erklärt werden, da für das Runenlesen praktisch nie das Wort "lesen" verwendet wurde (statt dessen vor allem "raten", was in der Tat das englische Wort für "lesen" ergeben hat, nämlich "to read", entsprechend "to write" für "schreiben" als "ritzen", ebenfalls ein Wort aus der Runentechnik, während das Deutsche mit "schreiben" wiederum etwas aus dem Lateinischen — "scribere" — entlehnt hat).

2.

"Das Lesen hat eine Geschichte", heißt es bei Robert Darnton. Aber durch der Jahrhunderte Strom, durch den — laut Schiller — redende Blätter die stummen Gedanken getragen haben, gesellte sich neben die opulenten Literatur-, Wissenschafts- und Bildungsgeschichten bis jetzt keine Geschichte des Lesens. Von der geistigen und materiellen Schaffung des zu lesenden Stoffes und von seiner Verbreitung handeln beispielsweise die kürzlich erschienene Geschichte des Bleistiftes, die mehrbändige Buchhandelsgeschichte, die Bibliotheksgeschichte und die Verlagsgeschichte.

All diesen Abhandlungen ist gemeinsam, spätestens an der Stelle innezuhalten, wo der Leser das Buch aufschlägt und darin liest. Als handelte es sich dabei um einen intimen Bereich, der ebenso individuell wie unkontrollierbar wäre, wurde die entscheidendste Schnittstelle der Wissensvermittlung sorgsam ausgeklammert. Dennoch ist sie nicht unreflektiert geblieben. Die Hermeneutik, für alle Geisteswissenschaften grundlegende Methode des Verstehens und der Sinnerschließung von Äußerungen und Werken des menschlichen Geistes, des menschlichen Daseins überhaupt und geschichtlicher Ereignisse an sich und in ihrem Zusammenhang (Brockhaus — Wahrig), macht sich schon seit längerer Zeit Gedanken über das Hinein- und Herauslesen von textlichem Sinngehalt.

3.

"Die im Denken verschlossene Wahrheit ist ein edles Besitztum der Seele," ist bei de Bury nachzulesen, und das bezeichnet den Vorgang, der sich im Innern des menschlichen Geistes vollzieht. Oder, nach einem Lied: "Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten…" Der Schritt vom Gedanken zum geschriebenen Wort wird vom Autor bewältigt, dem die Aufgabe obliegt, das, was er denkt, möglichst so zu formulieren, daß der Leser es begreift: daß er es so nachdenkt, wie der Autor es vorgedacht hat. Der Leser wiederum wird bestrebt sein, die Gedanken des Autors bestenfalls kritisch nachzuvollziehen. Dabei geht die Interpretation durch den Leser über das geschriebene Wort hinaus, und er fragt sich: Warum hat der Autor das geschrieben? Welche Begleitumstände führten zu diesem Text? Meint der Autor das wirklich so, oder ironisch?

Es gibt das literarische Stilmittel, einen Vorgang scheinbar präzise zu beschreiben, dabei jedoch den Leser dazu zu bringen, das Wort mit Sinn zu füllen — und dabei bleibt es dem Leser überlassen, was der Text bedeuten wird. Borges und sein Freund Adolfo Bioy Casares haben dieses Stilmittel in einer Kurzgeschichte durchgespielt, die mit nur elf Wörtern auskommt: "Der Fremde erstieg im Dunkeln die Stufen: klick-klack, klick-klack." Ähnliche Methoden gibt es in der Malerei und in der Musik. Die Assoziationen, die den Hörer bei Stücken von Gustav Mahler, Arvo Pärt oder Arnold Schönberg beschleichen, entstanden nicht durch den Akt des Komponierens, sondern durch den des Hörens, dem Lesen ähnlich.

4.

Der entscheidende Vorgang beim Lesen ist also nicht, einen starren Sinn abzulesen, der unveränderlich festgeschrieben ist, sondern liegt darin, daß der Sinn beim Lesen überhaupt erst entsteht. Das Lesen ist daher ein aktiver Prozeß. "In jedem Fall ist es der Leser, der den Sinn in die Zeichen hineinliest. Wir alle lesen in uns und der uns umgebenden Welt, um zu begreifen, wer wir sind und wo wir sind. Wir lesen, um zu verstehen oder auf das Verstehen hinzuarbeiten. Wir können gar nicht anders: Lesen ist wie atmen," heißt es in Manguels Buch. Das Lesen als existentielle Tätigkeit ist weit älter als das Buch, und immer hat es den Menschen — und auch die Tiere! — durch die Evolution begleitet. Beispiele: Das Lesen von Duftspuren bei Ameisen, das Lesen lockender Gerüche durch Aasfliegen, das Lesen von Orientierungstänzen bei Bienen, das Lesen von Brunftrufen bei Hirschen, das Lesen der richtigen Richtung durch befühlen des Wüstensandes bei Nomaden, das Lesen in den Augen des Mitmenschen, das Ablesen der Uhrzeit, das Lesen in den Wolken zur Vorhersage des Wetters. Kriminologen lesen in den Spuren am Tatort, Kunstkritiker lesen in den Bildern und Skulpturen.

Dies alles schwingt mit, wenn man in Manguels Geschichte des Lesens liest, auch wenn in dem Buch hauptsächlich das Lesen von Schrift behandelt wird. Darüber hat sich — auf andere Weise — schon ein anderer Bücherfreund Gedanken gemacht: Als Richard de Bury vor gut sechseinhalb Jahrhunderten seinen Traktat "Philobiblon — von der Liebe zu den Büchern" niederschrieb, betitelte er das erste Kapitel mit dem programmatischen Wort: "Der Schatz der Weisheit ist vornehmlich in Büchern zu suchen" und das zweite mit "Weshalb und worin die Bücher dem Reichtum und den Vergnügungen vorgezogen werden müssen". Da leuchtet Ehrfurcht heraus — die Bücher werden in tiefer Dankbarkeit als kostbarer Wissensschatz, der ständig durch Abschreiben vervollständigt wird, betrachtet.

Ähnlichkeiten zwischen den beiden Bibliophilen liegen in der Natur der Sache und werden deutlich, wenn etwa de Bury formuliert: "Die im Buch geschriebene Wahrheit aber zeigt sich immer und ohne Pausen unserem Blick. Indem sie auf geistigem Wege durch die Augen dringt, die Vorhalle des Verstandes und den Innenhof der Phantasie, gelangt sie in den Saal der Intelligenz, wo sie sich mit dem Gedächtnis vereinigt, um die ewige Wahrheit des Gedankens zu erzeugen," und Manguel einer ausführlichen Abhandlung die Passage voranstellt: "Lesen beginnt mit den Augen. … Jedem Leser leuchtet ein, daß Buchstaben durch den Gesichtssinn aufgenommen werden. Durch welchen alchemistischen Vorgang aber werden diese Buchstaben zu sinntragenden Wörtern? Was geschieht in uns, wenn wir mit einem Text konfrontiert werden? Wie werden die sichtbaren Dinge, die Substanzen, die durch die Augen unser inneres Labor erreichen, die Farben und Formen von Gegenständen und Buchstaben, lesbar? Worin besteht eigentlich der Akt, den wir Lesen nennen?"

5.

Ein systematisches, chronologisches Geschichtswerk ist dabei nicht entstanden, und es könnte auch nicht das vermitteln, was in dem 362 Seiten langen Essay über das Lesen (denn ein Essay sollte es zunächst werden und ist es schließlich auch) deutlich wird. Historisches verbindet sich mit sehr subjektiven Eindrücken zu einer Art Plauderei, die sich Abschweifungen leisten kann und kurzweilig zu lesen ist. Und wenn jemand zur Abfassung dieser Schrift berufen war, dann Alberto Manguel, der fünf Sprachen spricht, noch einige mehr für Übersetzungen bereithält und in der Literaturwelt aller Kontinente verkehrt. Er übersetzte unter anderem Joseph Roth, Friedrich Dürrenmatt, Umberto Eco und Günther Grass, arbeitet außerdem als Kritiker, Journalist, Lektor und Herausgeber. Geboren ist der kanadische Staatsbürger 1948 in Buenos Aires, seine Kindheit verbrachte er in England, Tel Aviv und woanders.

Der Vater stand im diplomatischen Dienst und hat sich für eine repräsentative Bibliothek Bücher nach Regalmetern zugelegt, die er vom Buchbinder auf passende Höhe zuschneiden und einbinden ließ — der Sohn vertiefte sich in diesen Wissenshaufen und las, was er fand, im entsprechenden Alter schlug er im Lexikon diejenigen Wörter nach, die sich in seiner Vorstellung irgendwie mit Sexualität verbanden: "Masturbation", "Penis", "Vagina", "Syphilis", "Prostitution" — als er merkte, daß Außenstehende nicht bemerken konnten, was er las, glich das einer Offenbarung. Noch öfters berichtet er davon, daß das Lesen eine sehr spezifische Handlung zwischen Leser und Buch ist. Er studierte in Buenos Aires Latein und Spanisch. Dieser polyglotte "Büchernarr" hat dem Aufnehmen und dem Verstehen geschriebener und gedruckter Texte über die Zeiten hinweg nachgespürt, dabei jedoch subjektiven Prioritäten den Vorzug vor wissenschaftlicher Kühle und Systematik gegeben. In ganzen Bibliotheken, aber auch in sich selbst, ist er, der sich seit frühester Kindheit ständig Bücher aller Art regelrecht "reingezogen" hat, fündig geworden. Mit der Erinnerung an sein erstes gelesenes Wort, an seine frühe Lesewut, die ihm einen Vorwand für das Alleinsein, vielleicht auch dem über ihn verhängten Alleinsein einen Sinn gab, und an die Begegnung mit dem fast erblindeten Jorge Luis Borges, dem er als Junge in Buenos Aires zwei Jahre lang täglich vorlas, beginnt der Streifzug.

"Ich entdeckte Texte, indem ich sie laut vorlas, und Borges tat mit den Ohren, was andere mit den Augen tun: Er nahm die Seite in sich auf, um nach einem Wort, einem Satz oder einer Passage zu suchen, die in seinem Gedächtnis eine Spur hinterlassen hatten. Oft unterbrach er mich und kommentierte den Text, um, wie ich glaube, ihn tiefer in sich zu verankern." Die Darstellung dieser Erlebnisse ist spannend und interessant, geht zuweilen auch ins Komische: "Ein anderes Mal (ich weiß nicht mehr, was ich ihm vorlesen mußte), begann er (Borges) aufs Geratewohl, mißratene Verse großer Dichter aufzuzählen, darunter … Milton mit seinen letzten Zeilen im Wiedergewonnenen Paradies": "he unobserv’d / Home to his Mother’s house private return’d", die seiner Meinung nach Christus wie einen englischen Gentleman mit Melone erscheinen ließen, der seiner Mutter zum Tee einen Besuch abstattet."

Dann leitet der Autor zu Meilensteinen der Schriftkultur, Buchkunst und Literatur über, zum Akt und der Macht des Lesens. Die uns dabei begegnen, von Aristoteles bis Lovecraft, von Al-Haytham bis Oliver Sacks, von Maria Magdalena bis E. B. Huey, alle, die selbst Texte verfaßten oder selber begeisterte Leser waren, holt Manguel in den Zeugenstand: den persischen Großfürsten, der auf Reisen stets seine 117000 Bücher mit sich führte — auf einer alphabetisch geordneten Kamelkarawane, den bibliokleptomanen Grafen Libri oder die Kubaner aus den Tabakmanufakturen, die das Vorlesen aus Büchern während der Arbeit so begeisterte, daß sie Zigarren nach literarischen Helden benannten. Manguel erzählt vom Lesen wie von einer Obsession, der auch wir — mehr oder weniger — alle verfallen sind. Sein Buch ist eine Liebeserklärung an das Lesen, die in dieser Art nur von einem literarischen Weltbürger geschrieben werden konnte.

6.

"Eine Geschichte des Lesens" wurde vom Verlag Volk & Welt, Berlin, jetzt in deutscher Sprache für DM 58,– herausgebracht. Es ist in sehr schönes dunkelgrünes Leinen eingebunden und am Rücken mit goldener Schrift verziert. Mit dem roten Kapitalband und einem roten Lesebändchen wirkt es bibliophil, ist es aber nicht. Denn leider ist das Buch, das man sich gerne immer wieder hervornimmt, nicht fadengeheftet, sondern nur klebegebunden, und an einigen Stellen im Buch wird die Schrift unvermittelt sehr blaß. Davon abgesehen ist es typographisch vorbildlich gestaltet, der Druck hält weitgehend Register, die Seiten sind ästhetisch und unaufdringlich aufgeteilt, die Schrift, der Schriftgrad und das leicht gelbliche Papier gehen eine Verbindung ein, die erwarten läßt, das Buch bei der nächsten Frankfurter Buchmesse unter den "fünfzig schönsten deutschen Büchern" wiederzufinden. Der Autor hält am 26. April um 20.00 Uhr eine Lesung im Literaturhaus, Seidengasse 13, 1070 Wien, ab. Zum Welttag des Buches steht er dort unter dem Motto "Droge Lesen — Kuilturtechnik Lesen" auch für Fragen zur Verfügung. Wer sich das Buch vorher schon besorgt, kann es sich freilich auch signieren lassen oder sich mit diffizilen, auf versteckte Details bezogene Fragen rüsten.

Aus dem Buch spricht jemand, der erklärtermaßen vom Lesen besessen ist. Das Buch legt Zeugnis darüber ab, wie weit Bibliomanie in Einzelfällen gehen kann. Doch zu keinem Zeitpunkt drängt sich bei der Lektüre der Verdacht auf, daß Manguel nur in den Büchern leben würde, denn sein Buch ist nicht radikal oder missionarisch, sondern im besten Sinne des Wortes freundschaftlich. Man könnte auch sagen, es handele sich um den Erfahrungsbericht eines leidenschaftlichen Lesers. In Kanada, Brasilien, den USA und England ist das Werk daher sehr erfolgreich, in Besprechungen tauchen berispielsweise die folgenden Passagen auf: "Manguels unprätentiöser Ton ist der eines Freundes, der voller Begeisterung sein Wissen teilen möchte. Diesem Autor zu folgen, seinem Witz, seinen Abschweifungen, ist eine wahre Freude" (Kirkus Reviews); "Es gibt viele Texte über die Bücher und das Leben — aber diese bezaubernde Beschreibung ist unübertrefflich. Gleichsam einer klugen Elster hat Manguel faszinierende Funde gesammelt" (Financial Times). Fast gleichzeitig erschien "Literatur und Lust" von Thomas Anz, und in dieser Synchronizität zeigt sich wieder einmal, daß Geistesblitze zuweilen an mehreren Orten gleichzeitig niedergehen.

Vielleicht war die Zeit einfach reif für eine Auseinandersetzung mit dem Lesen. Denn auch wenn Richard de Bury den Prototyp für die Liebeserklärung an das Lesen schon vor langer Zeit niedergeschrieben hat, kann doch heute ein regelrechtes Füllhorn an Beispielen zum Thema präsentiert werden. Inzwischen wurde der Buchdruck erfunden, Bibliotheken entstanden und vergingen, Heerscharen von Bibliophilen zogen vorüber, Medienkonkurrenzen wurden und werden ausgefochten, die Bücherwelt befindet sich derzeit im größten Umbruch seit Gutenberg, und Manguel? Er wuchs als Diplomatenkind in verschiedenen Ländern auf, verbrachte die meiste Zeit mit sich allein — und lernte früh, daß es in seinem Leben nur eine Sache gibt, auf die man sich wirklich verlassen kann: Das Lesen.

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