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Wo bleibt die alte Zeit?*

*) nach dem Titel eines Wienerliedes

Von Alexander Glück

 

Infisziert von an Lied und vor all´n vom Schrammelbazillus befalln…

Es zeig´n si die Symptome klar: hört er a Geig´n, wird er a Narr.

Gibt ka Ruah, net bevor si´d´ Quetsch´n streckt und eahm gleich a Pipeline ins Ohrwaschl legt…

Des Öl, des reine, ziagt er si eine ledig und pur, die Süchtlernatur!

A Liadl bestelln, und eine in d´ Welln: Er gibt si die Musi auf intravenös…

A volle Ampulln aus der Schrammelschatulln, denn immer muaß Zeit sei für des…

(Roland Neuwirth)

Eine ausgefallene Mischung ist dieser Mann: Einerseits steht er in der Tradition langhaariger Musiker im amerikanisch-europäischen Kontext, beseelt von Blues und Soul, ergriffen von der Verandanostalgie weißer Holzhäuser in Missouri. Andererseits hat er für sich entdeckt und für pflegenswert erachtet, was zwischen den Hohn zweier Nachkriegsgenerationen und der klebrigen Folkloreseligkeit Grinzinger Touristenheuriger beinahe völlig zerrieben worden wäre: das Wienerlied, die Schrammelmusik, die Kontragitarre. Diese Verbindung ist fürwahr selten, deshalb wurde sie für Roland Neuwirth zum Markenprodukt und für eine ganze Reihe Nachfolgender zur belebenden Inspiration.

Bis ins Alter von dreiundzwanzig Jahren hat er geglaubt, ein Schwarzer zu sein. Er war Bluessänger, sang Amerikanisches, als sei er Amerikaner — bis er sich plötzlich bei seinem Tun selbst sah und sich fragte, was das eigentlich soll. Ihm wurde klar, daß er sich auf eine Chimäre eingelassen hatte, daß er das Spektrum seiner seelischen Ausdruckskraft mit dem Kopieren dessen verstellt hatte, was in einem anderen Kulturraum entstanden und diesem anderen Kulturraum zugehörig war. Und jede Wette: Zu dieser Zeit hätte Roland Neuwirth nur abfällig gelächelt, wenn man ihm Liliencrons "Deutsches Leben im Volkslied um 1530" unter die Nase gehalten hätte. Der Blues war ihm viel wahrer, der Blues war seine Sprache. Dieses Erwachen aus meiner Traumwelt war vorprogrammiert: Mir fiel immer mehr — bei den Musikern und dem Publikum — die geradezu abartige Annahme der Amerikanismen auf, die irgendwie hinten und vorne nicht stimmten. Abgesehen davon, daß den Leuten nicht auffiel, daß sie auf eins und drei klatschten, statt auf die Zwei und die Vier, war es ihnen auch egal, ob sie den Text verstanden oder nicht. Vielmehr handelte es sich um entwurzelte Heurigenzombies, die sich in das falsche Lokal verirrt hatten. Später wurde ihm klar, daß die Ausdruckswelt des Wienerliedes der Ausdruckswelt des amerikanischen Seelensangs gar nicht so unähnlich ist — andernfalls wäre er womöglich überhaupt nicht zu diesen Wurzeln gekommen, von denen er heute sagt, es seien die seinigen.

Als ich mich in den frühen siebziger Jahren mit der Schrammelmusik zu beschäftigen begann — und damit auch mit dem Wienerlied — , wußte ich nur, daß ich mich durch einen unerträglichen Berg von Kitsch graben mußte, um zu den wirklichen Kostbarkeiten vorzudringen. Ich hatte kein Verständnis dafür, Stücke und Lieder aus ihrer jeweiligen Zeit heraus zu betrachten, sondern ging statt dessen allein nach meinem Empfinden vor. Was ich mich nicht selbst vor Publikum zu singen traute, das hatte keinen Wert. — Neuwirth ging gefühlsmäßig vor, er wählte das als gut und wahrhaftig aus, was seiner eigenen Gesangsästhetik am nächsten kam. Die Idee, eine Schrammelgruppe aufzumachen, hatte er von seinem Vater bekommen, nachdem ihm die Unsinnigkeit des fremdsprachigen Gesangs klar geworden war. Gesagt, getan — nach und nach fanden sich die Neuwirth-Schrammeln zusammen, durch einen wortgewandten Journalisten kamen sie bald zu dem Namen Extremschrammeln, und heute sind sie bereits seit fünfundzwanzig Jahren unterwegs. Mission: Die Erneuerung des Wienerliedes.

Im Gegensatz zu anderen Schrammelquartetts — denn es gibt immer noch eine ganze Reihe davon — vollziehen die Extremschrammeln die Erneuerung des Wienerliedes durch die Vermischung mit modernen musikalischen Einflüssen, sagt Neuwirth. Also indem man ein traditionelles Lied verbluest, verswingt, verpopt oder verjazzt. Hubert von Goisern, der ebendies auch getan hat, wird allerdings nicht als Mitstreiter anerkannt. Die Formation Attwenger hingegen schon. Es mag wohl daran liegen, daß letztere Formation wesentlich kompromißloser interpretiert. Gruppen wie die Thaliaschrammeln oder die Herztonschrammeln wiederum vertreten die Ansicht, die Pflege und Erhaltung des Wienerliedes finde dadurch statt, daß man es in der ihm zugehörigen Art interpretiert — also so, wie es ursprünglich gespielt wurde. Letztgenannte Formation ist übrigens ebenfalls eine Gründung Neuwirths. Die Teilnahme an dieser Diskussion bleibt dem Leser unbenommen.

Die Roland Neuwirth Extremschrammeln sind allerdings zum Aushängeschild des echten Wien geworden. Sie folgen in ihrem Auftreten den Ur-Schrammeln (zwei Geigen, Kontragitarre, Knopfharmonika, Überstimme), mischen aber viel neues darunter: Blues, Rock´n´Roll, Funk, Jazz — wie es gerade paßt. So mag der Bezug zur Tradition des Wienerliedes eher in den Texten denn in den Arrangements Neuwirths zu sichen sein. Die Texte sind schnoddrig, frech, stellenweise gepfeffert. Die Pointierung der Texte gab es seit Johann Baptist Moser (1799—1863), die scharfen und teilweise sehr freizügigen Texte waren ein wichtiges Element. Frivoles gab es beispielsweise von Antonie Mansfeld zu hören, Josef Bratfisch oder Fanny Hornischer.

Die Schrammelmusik geht ursprünglich auf die Brüder Josef und Johann Schrammel zurück, die durch besonders virtuoses Gegenspiel brillierten — was zur damaligen Zeit in der Wiener Volksmusik selten war. Sie hoben sich durch ihre klassische Ausbildung am Konservatorium von anderen Heurigenmusikern deutlich ab. Johann Schrammel wurde in Neulerchenfeld geboren, Josef in Ottakring, und zwar um die Mitte des vorigen Jahrhunderts. Beide starben zu Ende des Jahrhunderts im siebzehnten Wiener Gemeindebezirk. Zusammen mit dem Kontragitarristen Anton Strohmayer, der noch bis in den Ständestaat lebte, gründeten sie zunächst ein Terzett, das später um die hohe G-Klarinette ergänzt und somit zum Quartett wurde. Die von Georg Dänzer gespielte Klarinette wurde bald durch die chromatische Knopfharmonika ersetzt. Aus dieser Formation hat sich auch die Kleinbesetzung mit Harmonika und Kontragitarre herausgebildet, die sich besonders zur Liedbegleitung eignet. Johann Schrammel sammelte auch alte Volksweisen, die er in einer dreibändigen Sammlung veröffentlichte.

Neuwirth sieht sich als Einzelkämpfer, er will auf keinen Fall irgendeiner "Bewegung" angehören — wenn er auch stolz ist, mit seiner Ansteuerung der Wiener Volksmusiktradition einige andere begeistert zu haben, die es ihm nun nachtun. Er möchte auch keine politische Musik machen, räumt jedoch ein, daß in den Texten fast immer auch etwas politisches enthalten ist. Sein Anliegen ist es, in einer Zeit, da der "musikalische Junk des Multikult" herrscht, auf die hiesigen Wurzeln hinzuweisen und künstlerische Vielfalt zu entwickeln. Als Beispiel dafür nennt er die Kapverdischen Inseln. Dort spielt jeder Gitarre (weil es dort auch so einfach ist, mit den wenigen Griffen), die Menschen fassen die Musik wie das Atmen auf. Früher, so sagt er, sei das auch hier so gewesen. Mein Onkel schenkte mir eine Mundharmonika, die ich ständig bei mir trug. "Der gute Kamerad" stand darauf, und auf der Innenseite der Schachtel war ein schmalziges Wald- und Wiesenbild. Ich konnte auf diesem "Fotzhobel" bald alles Mögliche spielen und inhalierte damit zugleich auch die ersten Anerkennungen der Verwandten. Heutzutage habe ich — mit Ausnahme eines Jugoslawen — kein einziges Kind mehr gesehen, das auf der Straße Mundharmonika spielt. Unsere Kinder tun so etwas nicht.

Der Unterschied zwischen Wien und den Kapverdischen Inseln liegt nun darin, daß dort die musikalische Tradition ungebrochen ist, während sie hier und auch in Deutschland einen Bruch erlitten hat. Infolge des schweren Mißbrauchs, der unter Hitler mit der deutschen Volksmusik und überhaupt mit dem Volkstum getrieben worden war, wandte sich die Nachkriegsjugend von all dem ab und eiferte amerikanischen Sängern und Gruppen nach, wodurch sich beiläufig eine neue Tradition entwickelte, ein sekundäres Amerika. Hitler und die Unmusikalität der Oberschullehrer haben es fertiggebracht, daß die Jungen über ihre eigene Volksmusik lachen und sich für sie schämen. Der Rest ist Kitsch, ein folkloristischer Reanimierungsversuch in einschlägigen Sendungen, völlig tote Kommerzware aus der Volksmusikbranche — es sei denn, man findet ehrliche Berührungspunkte. Er selbst brauche die Groove, sagt Neuwirth, denn mit ihr sei er schließlich aufgewachsen. Quintessenz des Rezepts: Amerikanisierung des Wienerliedes als Mittel gegen die Amerikanisierung unserer Kultur. Es riecht nach Homöopathie.

Roland Neuwirth zeigt, daß er seine Arbeit reflektiert. Viel früher noch als Rimbaud hörte er auf, Gedichte zu schreiben, nämlich im Alter von acht Jahren. Mit dreizehn klampfte er auf der Gitarre, als die Beatles gerade A Hard Day´s Night veröffentlichten. Ein Jahr später bastelte er sich eine elektrische Gitarre und zog damit in den Wurstelprater. Als 1966 auch Bob Dylan auf die Elektrische umstieg, gründete Neuwirth seine erste Rockband und gehörte zu den ersten, die das Cello in die Rockmusik brachten. Zwischen 1968 und 1973 spielte er, immer noch Autodidakt, Kontrabaß in Swing- und Dixiebands, er bestritt zahlreiche Konzertreisen nach Deutschland und Österreich und druckte zum Gelderwerb Todesanzeigen. Nachdem ihm aufgefallen war, daß seine Musik nicht recht zu seinem kulturellen Hintergrund paßte, schrieb er sich zum Studium an der Musikhochschule in Wien ein, wo er bei Luise Walker das klassische Gitarrenspiel erlernte. Aus dieser Zeit stammen seine ersten eigenen Wienerlieder. 1974 kam es dann zur Gründung der Neuwirth-Schrammeln. Die Geburt der rockigen Schrammelbesetzung und Umbenennung in "Extremschrammeln" fällt in das Jahr 1983. Im Folgejahr erhielt er einen Sonderpreis der Stadt Wien für die Weiterentwicklung des Wienerliedes; mit "Coppa Cagrana — An der Neuen Donau" und "Konzert für Schrammelquartett und Orchester" liegen bereits zwei Orchesterwerke vor, 1995 gründete er mit den Herzton-Schrammeln eine Formation, die sich der klassischen, unverfälschten Schrammelmusik verpflichtet fühlt.

Die Musiksequenz wird mit Erlaubnis der Classical Piano Midi Page verwendet. Das Urheberrecht liegt bei Bernd Krüger.

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