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Ein Schmatzen, Zwitschern und Sausen

Von Alexander Glück

 

Wenn die Karottenflöten ihr leises Klagelied anstimmen, die Lauchgeige und die Melanzanis hinzutönen und noch manch anderes Grünzeug in schrillen Tönen aufklingt: dann erst weiß man, daß man im Auditorium des Ersten Wiener Gemüseorchesters sitzt. Die Klangeindrücke sind in jedem Fall einmalig, zuweilen grandios. Auf einem Grashalm hat wohl jeder schon geblasen. Aber auf einem Paprika? Einer Karotte? Einer Zwiebel? Hier gibt es ein ganzes Orchester davon. Ein Orchester, ein ernsthaftes zumal, das auf nichts anderem als Gemüse musiziert, das hat es bisher noch nicht gegeben. Allerdings hat es auch niemand vermißt. Nun ist es da, bereits seit Januar 1998, und tritt gelegentlich vor einer verblüfften Zuhörerschaft auf — in schwarzen Anzügen, wie es sich gehört für ein Orchester in Wiener Tradition. Seit der Gründung arbeiten über neun Personen, die in verschiedenen künstlerischen Bereichen tätig sind, gemeinschaftlich an Konzeption und Durchführung dieses Projekts: Instrumente werden entwickelt, Kompositionen ausgesucht und erarbeitet.

Kompositionen? Sehr wohl! Die Musiker spielen vom Notenblatt, wenn auch die Notationen nicht gar so klassisch sind. Es handelt sich um graphische Felder, die jedem der neun Musiker einen Platz innerhalb der jeweiligen Improvisation zuweisen. Das können kurzfristig eingefallene Geräusche sein, musikalische Begegnungen zwischen Lauch und Kürbis, zwischen Tomate und Rhabarberklampfe. Die Notationen sind der Leitfaden durch einen Kosmos der Geräusche, und durch sie kommen einander verwandte, jedoch immer andere Interpretationen des jeweiligen Stückes zustande, wobei besonderer Wert auf Pluralität der Musikstile gelegt wird. Das musikalische Spektrum reicht von traditionellen afrikanischen Stücken über klassische europäische Konzertmusik bis hin zur experimentellen elektronischen Musik. Das Instrumentarium besteht ausschließlich aus Gemüse, allenfalls werden sekundierende Küchengeräte wie Messer oder Mixer eingesetzt. Dadurch entsteht ein eigenständiger und völlig neuer Klangstil, der mit herkömmlichen Klangauffassungen beileibe nicht zu vergleichen ist.

Die Vorarbeiten für Proben und Konzerte sind aufwendig. Jedesmal muß das gesamte Instrumentarium vom Markt geholt und zugerichtet werden: Gurken und Karotten werden mit modifizierten Bohrmaschinen konfektioniert, Rhabarberfasern werden zu Saiten geflochten, Mundstücke und Pfeifen werden aus dem pflanzlich-feuchten Material geschnitzt. Die Instrumente reifen während des Spiels in der Hand des Musikers, sie verändern sich und verlieren allmählich an Substanz — etwa die Lauchpeitsche, die mit jedem der kräftigen Hiebe sichtlich Federn läßt. Die komplizierte Aufnahme- und Verstärkungstechnik der sensiblen Klangkörper wurde in Zusammenarbeit mit Wolfgang Musil (Lehrbeauftragter am Elektroakustischen Institut der Hochschule für Musik in Wien) konzipiert — eine Mischung aus Kondensator-, Gesangs- und Kontaktmikrophonen ermöglicht ein unmittelbares Erleben der oft sehr leisen Töne. Ein Auftritt des ersten Wiener Gemüseorchesters bietet so eine spannungsvolle Mischung aus Performance und Konzert. Zunächst ist es ganz gewöhnlich: Neun Musiker in schwarzen Anzügen spielen ein Konzertprogramm. Dabei wird jedoch die soziale Struktur eines traditionellen Orchesters reflektiert, imitiert und an die stilgemäßen Erfordernisse der einzelnen Stücke angepaßt. Trockenerbsen rascheln von einem Säckchen ins andere, ausgehöhlte Sellerieknollen dienen als Bongos; Paprikaschoten mischen sich als Muschelhörner ins Geschehen. Auf dem Holzbrett hackt ein Messer im Takt die Zwiebeln klein, von hinten dringt der Ruf einzelner Karottenflöten hervor. Und es klingt immer wieder frisch. Denn für jeden Auftritt, jede der vierzehntägigen Proben sogar, müssen die Instrumente neu hergestellt werden. Nur die Kürbispauke hält länger. Das ist, so sagen die Musiker, bedeutsam im Frühjahr. Denn da werden Kürbisse allmählich Mangelware. Nach dem Konzert wird die Bühne einem Koch überlassen, der dort das Instrumentarium zu einer köstlichen Gemüsesuppe verabeitet, die dann gemeinsam von den Konzertbesuchern und Musikern verspeist wird.

Das Erste Wiener Gemüseorchester ist als "Abteilung für vegetabile Klangforschung" in das "Institut für Transakustische Forschung" eingebettet. Dieses Institut wurde als Idee gemeinsam mit dem Gemüseorchester geboren und im September 1998 als Verein konstituiert. Weitere musikalische Projekte des Instituts, etwa ein Unterwasserorchester, sind geplant. Die Mitglieder des Orchesters studieren zumeist künstlerische Fächer, und mit ihren transakustischen Experimenten ist es ihnen sehr ernst. Sie nehmen derzeit sogar eine CD mit ihrer Musik auf. Der studierte Bildhauer Nikolaus Gansterer etwa fände es,,furchtbar, wenn man das als Kabarett betrachten würde". In einer Erklärung, die sich mit der Frage: "Mit dem Essen spielen?" befaßt, verwehrt sich das Ensemble gegen eine verbiederte Betrachtungsweise von Gemüse "ausschließlich als Mittel zur Befriedigung des Freßtriebes". Man will "Alltagsgeräusche" zu Gehör und zum Bewußtsein bringen. Man betrachtet dieses Tun "als eine Art Dada" und versucht, in die Liga der Wiener Experimental- und Avantgarde-Musik hineinzukommen. Gespräche mit dem renommierten Wiener Musikverein laufen bereits.

Trotzdem lachen die Besucher, vielleicht sogar etwas zu viel für den Geschmack der Künstler, die das aber unbewußt provozieren. Voller Verve wirft sich etwa Ernst Reitermaier in sein Gurkophon, das ein Karottenmundstück und einen Schalltrichter aus rotem Paprika hat. Der knatschige Ton erinnert an längst Verworfenes aus dem fünfzehnten Jahrhundert, allein die damit erzeugten Geräusche sind — sozusagen — zeitgemäß. Daneben gehört gelegentliches Nagen an den Instrumenten zum Repertoire. Überhaupt ergibt sich zuweilen erst während des Stücks die ideale klangliche Nutzung des jeweiligen Instruments: Die Künstler blasen hinein, schlagen zwei Hälften zusammen, trommeln darauf herum, zermatschen und essen die Instrumente. Zum Schluß wird auch noch gemeinsam gerülpst.

Die Genese der Instrumente hat bereits viele Experimente hervorgebracht. Was allein aus Karotten bislang fabriziert wurde, würde schon zu einem kleinen Stammbaum reichen (siehe Interview). Dadurch entwickelt sich die Musik des Gemüseorchesters stetig weiter — zusammen mit dem musikalischen Geschick seiner Mitglieder. Ein Gemüseklavier soll die vorläufig höchste Stufe des frischen Instrumentenbaus sein. Was dahintersteckt, ist nicht lediglich der Wunsch nach originellen Auftrittseffekten, sondern der Weg zu einer umfassenderen Nutzung von Gemüse. Wir verwehren uns gegen festgefahrene Zweckvorstellungen und die verbissene Ambition, ausschließlich normierte Instrumente in der Musik zu verwenden, und treten gleichzeitig für einen lustvollen Umgang mit unseren Nahrungsmitteln ein. Unsere Musik ist ein Ausbruch aus der verbiederten Betrachtungsweise von Gemüse ausschließlich als Mittel zur Befriedigung des Freßtriebes. Marinierte Klangvorstellungen und konservierte Hörgewohnheiten wollen eine Erweiterung erfahren; wir lenken die Aufmerksamkeit auf die (trans)akustischen Qualitäten nächster Alltagsgegenstände.

Am Anfang war die Karottenflöte

Interview mit Jörg Pieringer und Ernst Reitermeier vom Ersten Wiener Gemüseorchester

Wie kam es zur Gründung des Orchesters? Wer hatte den Einfall?

Die Idee dazu kam im Januar 1998 beim Kochen für eine Party. Mehrere spätere Mitglieder des Gemüseorchesters waren daran beteiligt.

Wer steuert die Partituren für die Stücke bei?

Der Partiturenschreiber heißt Franz Hautzinger und ist ein bekannter Musiker im Bereich der improvisierten und neuen Musik. Er beschäftigte sich mit der graphischen Notation von Karotten und anderem Wurzelgemüse. Er hat den Kontakt hergestellt, nachdem er von uns gehört hatte.

Wie schaut es mit Veröffentlichungen aus?

Es gibt bisher keine veröffentlichte CD, nur eine Demo-CD, die aber nicht zu Verkauf angeboten wurde. Gegenwärtig (Juli 1999) wird allerdings eine CD im Studio aufgenommen, für deren Finanzierung noch Sponsoren gesucht werden. Die geplanten CDs wird man über das Institut für transakustische Forschung beziehen können.

Wann tritt das Gemüseorchester wieder auf?

Am 6. November im "Die Theater Künstlerhaus" im Rahmen des Festivals "Die Macht des Staunens". Der Eintrittspreis ist jedoch noch nicht bekannt.

Wie haben sich die Instrumente entwickelt?

Mit Streichinstrumenten zum Beispiel sind wir nicht weit gekommen. Rhabarberfasern haben sich als ungeeignet erwiesen. Erstens kann man sie nicht so straff spannen wie nötig, zweitens ist im Ensemble ein Streit entbrannt, ob Rhabarber denn Gemüse sei oder etwa Obst. Allerdings kann man aus Rhabarberfasern sehr stabile Saiten flechten. Kurzum: Am Anfang war die Karottenflöte. Sie entwickelte sich von einer einfachen Pfeife zu einer Panflöte ueber eine Lotusflöte bis hin zur Karottenblockflöte. Ein Gemüseklavier ist in Arbeit. Verhandlungen mit einem Kühlhaus sind am Laufen.

Was plant das Gemüseorchester für die Zukunft?

Wir wollen beim Neujahrskonzert 2001 auftreten. Daneben planen wir eine Gemüseoper mit großem Gemüsesymphonieorchester. Daneben arbeiten wir weiter am Institut für Transakustische Forschung, das die Schirmherrschaft über das Gemüseorchester übernimmt und zahlreiche ähnliche Projekte im In- und Ausland durchführt. Weiters ist eine weltweite Universität projektiert, deren Gründung im Jahr 2000 vonstatten gehen wird.

Mitglieder des Ersten Wiener Gemüseorchesters:

Nikolaus Gansterer, geb. 1974, Studium der Ethnologie und Theaterwissenschaft sowie der Bildhauerei (Hochschule für angewandte Kunst in Wien). Gründungsmitglied der Performancegruppe "Masala" (1996 "Minotaurus Lab."). Performances und Ausstellungen im In- und Ausland. Mitglied der Musikgruppe "Mundwerk".

Sabine Höllwert, geb. 1975, 4 Jahre Betreuung von Schwerstbehinderten, Beschäftigung mit multimedialen Projekten; Geräusch-Installationen; spielt Klavier und Flöte.

Barbara Kaiser, geb. 1972, seit 1993 in Wien, Studium in Wien (Philosophie, Psychologie, Völkerkunde), seit 1997 Meisterklasse Kowanz (Hochschule für angewandte Kunst in Wien). Mitwirkung bei der Performance-Gruppe "Madeleines", Filmausstattung, Begründerin von "Emotional Communication".

Chris Mach, geb. 1974, Comic-Zeichnerin, studiert an der Akademie der Bildenden Künste in Wien, Ausstellungen in Europa und USA; spielt Waldhorn und beschäftigt sich mit freischaffender Transformation.

Matthias Meinharter, geb. 1971, studiert Produktgestaltung an der Hochschule für angewandte Kunst, Wien; Gründungsmitglied der Performancegruppe "Masala"; Ausbildung in Tanz und Pantomime. Percussionist.

Jörg Piringer, geb 1974, Studium der Informatik in Wien; Mitarbeit bei der Literatur- und Photozeitschrift "666". Konzeption des Internettheaters "Oudeis — a World Wide Odyssey". Computerspiel "Der Name des Bruders". Zahlreiche Internetliteraturprojekte. Experimentelle elektronische Musik.

Ernst Reitermaier, geb. 1974, studiert Philosophie, Musik- und Bewegungserziehung in Wien. Saxophonist und Percussionist; verschiedene musikalische Projekte in den Bereichen Improvisation, Theater und Pädagogik; Obmann des Vereins "Little Joe" (Organisation eines jährlichen Festivals).

Richard Repey, geb. 1972, Kameraassistenz für "Begegnung der Inseln", Studium an der Goetheanischen Studienstätte Wien, Gründungsmitglied der Performancegruppe "Masala", seit 1996 in Ausbildung bei Ludwig Attersee; Diasperformances, mehrere Ausstellungen. Percussionist.

Marie Steinauer, geb. 1976, Studium der Pädagogik, Sonder- und Heilpädagogik sowie Elementarer Musikalischer Erziehung in Wien; Sängerin bei einer Band und beim Jazz-Chor Wien; Mitarbeiterin bei Schülerprojekten der KSJ.

Kontakt: Erstes Wiener Gemüseorchester/iftaf (Institut für transakustische Forschung), Theresianumgasse 35, A-1040 Wien. Tel./Fax: (0043-1)503 69 13.

Die Musiksequenz wird mit Erlaubnis der Classical Piano Midi Page verwendet. Das Urheberrecht liegt bei Bernd Krüger.

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