Der gefrorene Moment

Von Alexander Glück

 

Die Photographie hat unsere Wahrnehmung unter anderem in der Weise erweitert, daß dem subjektiven Moment ein objektiv-technischer erfahrbar gegenübertritt. Hatte man bisher den Augen-Blick unbewußt selektiert und ihn in subjektiver Verzerrung in der Erinnerung abgelegt, so können jetzt zeitliche Momente mit all ihren Aspekten zum Bild gerinnen. Das Geschehen einer Sechzigstelsekunde wird von der Kamera eingefangen. Und doch ist dieser Moment die kausale Ableitung aus aller Zeit, die ihm vorausging.

Der Moment der Zeit wird durch dieses Einfrieren jedoch erheblich ausgeweitet: Zu der Konstellation, die auf dem Bild zu sehen ist, tritt der Beobachter. Ihm gegenüber befindet sich der große Steinkopf über dem Tor, der seinerseits in Beziehung zu dem hockenden Photographen steht. Beide flankieren die zentralen Figuren: ein Pärchen, das durch die erklärte Absicht, sich photographieren zu lassen, aktiv und handelnd auf diesem Platz in Ragusa steht. Was dabei entsteht, ist keines der üblichen Beweisbilder (Japanerin vor Denkmal), sondern ein Dokument des Seins in einer faßbaren Gegenwart. Das Bild wird von einem aufgenommen, der sich klein macht, und später wird auch der Betrachter dieses Bildes klein sein: Man blickt hinab auf den Vorgang, einen Moment einzufrieren, und später werden dieselben Personen zu sich auf dem Bild aufsehen.

In dieser Aktivität wurden alle drei zum Teil des Motivs. Geschäftige Leute eilen aus dem Bild, was die Szene zwar als Alltagsvorgang kennzeichnet, zugleich jedoch den Blick des Betrachters freigibt. Von der dynamischen Unruhe der Passanten gelangt er zur Innigkeit dieses Augenblicks. Während das Leben vorüberströmt, halten drei Leute ein und bewahren sich einen Moment, an den sie sich später erinnern werden, und der an den anderen spurlos vorüberzieht. Für verschiedene Menschen kann daher ein kurzer Zeitabschnitt wie dieser erstarren oder fliehen. Die Kamera fängt auch diese Relativität ein: Wer vorübergeht, wird so selbst zum Teil der Handlung — mehr noch: zum Handelnden.

Längst jedoch sind an diesem Platz alle Personen dieses Moments verschwunden. Was bleibt, ist das Gebäude mit dem Steinkopf über seinem Tor und der glänzende Steinboden des Platzes. Als Konsequenz der Handlung ist das schon auf dem Bild absehbar, denn das Pärchen läßt sich photographieren, weil es diesen Ort verlassen wird. Deshalb gerät bei näherer Betrachtung der Steinkopf zur Hauptfigur. An ihm sind zahllose Passanten vorbeigekommen, und unter ihm gibt es Zeit nur als eine ewige Folge zahlloser einzelner Momente. Im Verhältnis zu ihm ist die gesamte Szene in Bewegung, also auch die für einen Moment innehaltende Gruppe. Während die Menschen und Schicksale verwehen, bleibt die Wechselbeziehung zwischen dem Betrachter auf der einen Seite und dem Steinkopf auf der anderen. Der technische Moment der Verschlußöffnung ermöglicht durch Reduzierung der Zeit die Erweiterung und Kenntlichmachung des Augen-Blicks. Indem die relevante Zeitspanne verkürzt wird, läßt sich der Moment dokumentieren und begreifen: Der Augenblick wird zur Ewigkeit.

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